Sonntag, 22. März 2009

3. VO - 17. März 2009 - Gideon Singer

Kindheit vor dem Nationalsozialismus

Dritter Gast bei Peter Landesmann war der Schauspieler Gideon Singer. 1926 in Brünn als Harry Singer geboren, wuchs er zweisprachig auf: mit seiner Mutter sprach er deutsch, mit seinem Vater tschechisch. In seiner Kindheit war er mehrmals in Wien, wo er seinen Onkel, der Operettentenor (wenn ich es richtig verstanden hab) war, besuchte. Jedenfalls weckten seine Wien-Besuche bei seinem Onkel sein Interesse für die Oper, weshalb er dann auch in Wien "Oper studieren" wollte, was seinem Stiefvater aber gründlich missfiel (den Teil, wie es vom Vater zum Stiefvater kam, hab ich leider verpasst oder er wurde nicht erwähnt); er wollte sodann weitere Wien-Besuche verhindern.

Flucht nach Palästina

1940 (laut Eigenaussage; und somit nicht 1941, wie etwa in der Wikipedia; 1940 wird auch durch andere Quellen unterstützt) floh er mit seiner Familie per Schiff nach Palästina, wo er sodann in ein Kinderheim gesteckt wurde (auch diesen Teil der Geschichte konnte ich nicht ganz nachvollziehen; allerdings gab es zB. in Zypern Internierungslager, wo "illegale" jüdische Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs von den Briten samt Frauen und Kinder interniert wurden; auch im damaligen Völkerbundsmandat Palästina gab es offenbar Internierungslager für illegale Einreisende; Singer sagte jedenfalls, dass er in ein Kinderheim, dessen Name ich nicht identifizieren konnte (Alyat Anoah oder so?), gesteckt wurde;

Im Kinderheim nach seinem Namen gefragt, meinten die Betreuer sofort "Harry ist kein jüdischer Name". Er bekam eine Liste hebräischer Namen, die er zwar nicht lesen konnte, aber durch die er sich fleißig durchfragte. Als er einen neuen Vornamen für sich gefunden hätte - er hieß übersetzt sowas wie "Wolf" - meinten die Betreuerinnen jedoch, den Namen habe schon ein anderes Kind gewählt. Harrys zweite Wahl war dann Gideon. Seinen Nachnamen durfte er, obwohl sie den auch ändern wollten, letztlich behalten.

Jüdische Identität im Wandel

Auch bei Gideon Singer trifft man wieder auf jenes anfänglich distanzierte Verhältnis zum Judentum, wie es bereits in Otto Schenks oder Danielle Speras Elternhaus vorherrschte. Seinen Vater bezeichnet Singer als einen "Antisemiten" - also ein "jüdischer Nazi", wie Landesmann überspitzt scherzte. Der Bruder seiner Mutter war aber tatsächlich Nazi, so Singer. Mir ist allerdings nicht bekannt ob Singers ganze Familie jüdisch war, denn sonst wäre der Bruder seiner Mutter tatsächlich ein "jüdischer Nazi" gewesen. Jedenfalls gab uns Singer damit zu verstehen, wie es um die "jüdische Identität" in seiner Familie bestellt war. Sie war praktisch nicht vorhanden. Nach dem Anschluss bzw. der Annexion der Tschechoslowakei und der beginnenden Judenverfolgung habe sich Singer jedenfalls gewundert, dass er "auch Jude" ist. Im Gymnasium durften nun pro Klasse nur noch zwei Juden sitzen, ab 22 Uhr galt eine Ausgangssperre und andere Diskriminierungen wurden ab nun vom NS-Staat verordnet.

Als er gegen Kriegsende bzw. danach von der Shoa erfuhr, vom Tod vieler Verwandter, sei das für ihn angeblich kein großer Schock gewesen. Er sei noch zu jung gewesen, als dass ihm das besonders nahe hätte gehen können - möglicherweise kannte er, bis auf seinen Onkel und seine Cousine(n?) in Wien seine Verwandtschaft auch kaum, näheres hat er dazu jedenfalls nicht gesagt.

Neues Leben in Israel und "Rückkehr"/erneute Auswanderung nach Österreich

Singer lernte bald hebräisch und wuchs ins im Entstehen begriffene Israel hinein. Er kämpfte in "5 bis 6 Kriegen" - "nur?" (Landesmann) und wurde so zum Israeli, jedoch nicht religiös. Generell sei es für "europäische Juden" (gemeint sind wohl insbesondere die Assimilierten) schwer gewesen, sich in Israel zu integrieren: klimatisch, mental und insbesondere sprachlich.

Was hat dich dazu bewegt, Israel zu verlassen? (Landesmann)
"Ich habe Israel bis heute nicht verlassen" (Singer). Es habe sich einfach so ergeben, als er in den 70ern von Rolf Kutschera eingeladen wurde, in Wien aufzutreten. Er habe zwei Identitäten: eine israelische und eine österreichische, die laut Pass, wo immer noch "Harry Singer" steht, allerdings eine tschechische ist.

Judentum im Alltag

Wie bereits erwähnt, ist Singer nicht religiös. Er weiß nicht mal, ob in der IKG ist, also ob er jemals eingetreten ist (fragender Blick zu seiner Frau, die ebenfalls anwesend war). Falls ja, würde er aber trotzdem nicht austreten. Dennoch spielt seine jüdische Identität, die er gemessen an seinen bisherigen Aussagen vermutlich eher als israelische beschreiben würde, im Alltag immer wieder eine Rolle. Dass er immer wieder als Jude wahrgenommen und in so eine Schublade gesteckt wird, störe ihn allerdings nicht besonders. Er erzählte von einem Ereignis, ich glaube es war in Deutschland, wo er von einem anderen Theaterschaffenden mit den Worten "Gideon Singer, Jude" vorgestellt wurde. Es sei jedoch scherzhaft gemeint gewesen, derjenige sei ein naiver Mensch und Singer ihm deswegen nicht böse.

Als Singer während der Waldheim-Zeit einen Israel-Aufhalt absolvierte, habe man ihn dort gefragt, ob er sich denn in Österreich unbehelligt auf offener Straße bewegen könne.

Ob er Erfolg und Misserfolg auf sein jüdische Zugehörigkeit zurückführe? (Landesmann) - Nein, "diesen Komplex" habe er nicht, bzw. habe er ihn abgelegt. Lediglich beim Autofahren, wenn sich jemand vorbeidrängle oder ihm die Vorfahrt nehme, rege er sich auf, dass dies sicher ein Antisemit sei - aber natürlich nur zum Scherz. "Das einzige worunter ich wirklich leide, jeder möchte mir einen jüdischen Witz erzählen".

Ob es etwas geistig Verbindendes unter Juden gäbe? (Landesmann) - Ja, aber das dürfe man nicht überschätzen oder verallgemeinern (Singer). Hierzu muss ich übrigens noch eine Aussage Otto Schenks einbringen: Beim ersten Treffen der "Deutschen Jungschar", wo auch "Halbjuden" miteingezogen wurden, hatten sich alle in einem Raum auf die vorhandenen Sitzplätze zu setzen. Als es dann hieß, die "Halbjuden" sollen alle aufstehen, standen genau vier Personen, inklusive Schenk, auf, und alle saßen nebeneinander in der selben Reihe, obwohl sie sich noch nie zuvor gesehen hatten - erzählte ein sichtlich amüsierter Schenk am ersten Termin dieser Gesprächsreihe.

Befragt zu Antisemitismus, dem Nahost-Konflikt, Vergangenheitsbewältigung und ähnlichen "schweren" Themen wich Singer häufig aus. Er könne dazu nichts sagen, könne über solche Dinge nicht reden, habe dazu keine Meinung. Das brachte Landesmann dann auch zur Frage, ob er meine, dass ein Schlusstrich unter die NS-/Shoa-Vergangenheit gezogen werden sollte. In gewisser Weise ja, so Singer; zumindest persönlich setze er sich nicht weiter mit der Vergangenheit auseinander, er lest zum Beispiel keine Bücher diesbezüglich (aufgrund seines persönlichen Lebenslaufes meiner Meinung durchaus eine verständliche Einstellung - er hatte wohl schon mehr Auseinandersetzung mit dem Thema, als ihm vielleicht lieb war). Aber generell dürfe man die Ereignisse keinesfalls vergessen. Bei Fragen zu diesem Thema müsse man ihm jedenfalls zugute halten, dass es sein erstes Interview in dieser Art, wo es "über ihn" geht, sei.

Bezüglich der Situation in Israel hat er jedenfalls eine klare Einstellung: er "leidet" unter der "israelischen Innenpolitik" - "vor allem jetzt", wo "die Zionisten wieder am Ruder" sind.

1 Kommentar:

  1. also erstmals Danke für die ausführliche Zusammenfassung. Ich wollte hier nur noch beifügen, dass Gideon Singer soweit ich mich erinnern kann, deshalb allein ins Kinderheim kam, da seine Eltern schon tot waren. Ich weiß nicht genau, ob Mutter oder Vater (da muss ich noch nach sehen) aber eine/r der Beiden kam bei der Flucht am Schiff ums Leben. Ich schau dir als bald als möglich nach. lg und Danke

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