Dienstag, 12. Mai 2009

8. VO – 12. Mai 2009 – Erich Lessing

Kindheit und Jugend

Erich Lessing wurde 1923 in Wien geboren. Er war Mitglied der Sozialistischen Jugend, die ab 1934, im austrofaschistischen Ständestaat, illegalisiert war. Das Verhältnis zwischen illegalen Sozialisten und Ständestaatlern war aber dennoch besser als etwa zwischen illegalen "Hakenkreuzlern" und Sozialisten. Lessing beherrscht noch heute, wie er stolz erzählte, die Technik, aus auf Hauswänden und Mauern gemalten Hakenkreuzen ein "verkehrtes" SDAP zu zeichnen - und zwar mit den Händen hinter dem Rücken.

Von der Politik des Ständestaats war seine Familie direkt betroffen, und zwar aufgrund des sogenannten "Doppelverdienergesetzes". Dieses besagte, dass in Ehepaaren, in denen beide Partner berufstätig sind, einer auf die Ausübung seines Berufes verzichten musste. Sein Vater war Zahnarzt, die Mutter Konzertpianistin. Wer von den beiden nun den Beruf aufgeben musste, weiß ich leider nicht mehr. Diese Methode der "Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" im Ständestaat schlug sich direkt auf das Haushaltseinkommen der Lessings durch.

Seine Eltern beschrieb Lessing als "überzeugte Juden". Jüdische Traditionen, Bräuche, Feste wurden eingehalten, gelebt, jedoch nicht orthodox. Man feierte Hanukkah, Bar Mizwa, Sukkot usw. Lessing trat als Kind auch der Schwimmsektion der Hakoah bei. Der Religionsunterricht in der Schule sah so aus, dass alle jüdischen Kinder des Gymnasiums in einer Klasse gemeinsam unterrichtet wurden. Zumindest ab 1936 war dies allerdings mehr Unterricht in jüdischer Geschichte, als religiöser oder zionistischer Unterricht, da der Lehrer eigentlich Mathematiker war, der aus irgendwelchen Gründen nicht Mathematik unterrichten durfte.

Nach dem Anschluss 1938 wurden alle jüdischen Gymnasiasten des 7., 8. und 9. Bezirks zum Religionsunterricht (oder generell?) im RG 8 in der Albertgasse zusammengefasst. Allerdings auch nur vorübergehend, denn bald darauf wurde Juden der Schulbesuch verboten. Bis zur Ausreise 1939 wurden Lessing allerdings noch einige Steine in den Weg gelegt.

Nach dem Anschluss: Trennung von der Familie, Flucht nach Haifa

Dass die Familie auswandern sollte, war vermutlich erst nach dem Novemberpogrom 1938 allen so richtig klar. Denn erst Ende 1938 begannen Lessings Anstrengungen, aus Wien auszureisen. Zu diesem Zeitpunkt machten es die Nationalsozialisten Ausreisewilligen aber schon ungleich schwerer, als in den ersten Monaten nach dem Anschluss. Nach dem Novemberpogrom wurde schlagartig alles anders, alles schlimmer. Persönliche Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden, im Fall der Familie Lessing etwa, wenn es um einen amtlichen Stempel für irgendwelche Dokumente ging (konkret: Bei Adolf Brunner - nicht ident mit dem Kriegsverbrecher Alois Brunner - der in der Prinz-Eugen-Straße offenbar wichtige Stempel verteilte und irgendwie mit den Lessings bekannt war, wodurch das ganze reibungslos und rasch, ohne Schikanen, vonstatten ging), funktionierten spätestens ab 1939 nicht mehr, da wohl keine Kulanz, keine Ausnahmen mehr geduldet wurden. Auch bei der Gauleitung war nach dem Novemberpogrom eine Radikalisierung bemerkbar, so Lessing. Denn während des Pogroms machte sich diese noch Sorgen, dass "so viel" zerstört wird (wohl vor allem in Bezug auf Geschäfte oder Wohnungen und weniger wegen der Synagogen), wenig später war es schon egal, was im Zuge der Judenverfolgung alles zerstört wird.

Dass Lessing ein Jahr warten musste, bis er legal auswandern konnte, ist jedenfalls Schikanen der Nazi-Bürokratie zu verdanken. Denn für einen gültigen Pass benötigte man zwei gültige Dokumente: nämlich eines über die "Judenvermögensabgabe" und ein anderes, dass man keine Schulden hinterlässt (wenn ich das richtig verstanden habe). Beide Dokumente galten jedoch nur 14 Tage, aber die Wartezeit für das zweite Dokument (das man offenbar erst bekommen konnte, wenn das erste vorgelegt wurde), betrug mindestens so lange, als dass das erste Dokument bereits wieder abgelaufen war. Man hatte also, so Lessing, nie zwei gültige Dokumente gleichzeitig in der Hand und kam so nie zu seinem Pass, den man zur Ausreise benötigte. Offenbar war es dann doch wieder die Bekanntschaft mit einem Notar, Dr. Harrandt, die es Lessing ermöglichte, rechtzeitig zu seinem Pass zu kommen und Wien bei wohl einer der letzten Gelegenheiten im Dezember 1939 zu verlassen. In Lessings Fall war es, um genau zu sein, ein "Schülerzertifikat", das von der Jewish Agency ausgestellt wurde, mit dem er ausreisen konnte.

Er fuhr mit dem Zug nach Triest, von wo aus es mit der "Galilea" nach Haifa weiterging. Er fuhr alleine, denn seine Mutter wollte ihn Wien bleiben, um ihre Mutter nicht alleine zu lassen. Was mit dem Vater passierte ist mir leider entgangen, doch dürfte der diese Zeit bereits nicht mehr erlebt haben. Zudem hatte Lessing einen Onkel in Wien, der eine Mühle besaß, das Unternehmen "Brach & Lessing". Dieser hinterließ Lessing ein Legat - mehr erfuhren wir auch hiervon nicht.

Bis 1942 bekam er über das Rote Kreuz Telegramme von seiner Mutter, dann brach der Kontakt ab. Durch Recherchen seiner Tochter Hannah erfuhr er von ihrem Schicksal in den Konzentrationslagern.

Zeit in Palästina / Israel

Im damaligen Mandatsgebiet Palästina ging Lessing in einen Kibbuz, bei Beit Sha'ar, wenn ich es richtig verstanden hab (und wovon es, laut den mir möglichen Recherchen auf deutsch und englisch, zumindest zwei gibt). Es war jedenfalls "bürgerlich-zionistisch" und Lessings Aufgabe war dort, auf einem nahe gelegenen Berg auf die korrekte Teilung der Quelle zwischen drei israelischen Dörfern und einem palästinensischen Dorf aufzupassen. So saß er dort viele Stunden und verbrachte die Zeit mit lesen. Die übrige Zeit hat er Fischteiche vermessen. Den Kibbuz, zumindest jedenfalls die Teiche, gibt es heute noch, es sind sogar noch sehr viele dazugekommen. Viel gelesen hat er dann auch während seiner Zeit als Taxifahrer in Haifa (oder Tel Aviv?), wenn zu manchen Tageszeiten wenig Kundschaft da war. Mit der Fotografie ist er erst 1950 berufsmäßig in Kontakt gekommen. Seine erste Kamera hatte er zwar schon zu seiner Bar Mizwa in Wien, als er 13 war, bekommen. Doch mehr oder weniger professionell eingesetzt hat er sie erst ab seiner Zeit als Fallschirmjäger beim britischen Militär (er fotografierte aus dem Flugzeug heraus, möglicherweise sogar bei seinen Sprüngen, obwohl das ein ziemlicher "Kasten" war - einmal ist sie ihm dann bei einer unsanften Landung auch kaputt gegangen).

Rückkehr nach Österreich

Sein erster Eindruck bei der Rückkehr nach Österreich – wiederum über Triest und dann mit dem Zug nach Wien – war folgender: Bei der Passkontrolle an der österreichischen Grenze nahm der Beamte den britischen Pass von Erich Lessing zu sich, schaute ihn an, lächelte mild, gab den Pass zurück, und verschwand ebenso wortlos wie die ganze Prozedur abgelaufen ist. Das war, so Lessing, wie ein versteckter Willkommensgruß für ihn.

Auch mit der Rückkehr nach Wien, woraus er etwa 8 Jahre zuvor fliehen musste, hatte er nicht wirklich ein Problem. Er traf einige nette Leute, wie etwa den sozialdemokratischen Hausmeister von einst, wieder, was schöne Erfahrungen waren. Aber er traf auch Leute, die er aus 1938/39 unangenehm in Erinnerung hatte. Die Wohnung, in der Lessing vor der Flucht lebte, war mittlerweile von jemand anderem bewohnt. Er versuchte gar nicht, sie zurückzubekommen. Doch er suchte seine alten Möbel – und fand sie in den Geschäften der Umgebung: Beim Kohlenhändler, beim Gemüsehändler usw. Die hat er zurückbekommen – er hat sie abholen lassen, wie er sagte.

Dass er nach Österreich zurückgekehrt ist, ist im Grunde nur dem Umstand zu verdanken, dass es ungleich schwieriger war, ein Visum für Frankreich (er wollte seine Fotografie in Paris professionalisieren) zu bekommen, als mit britischem Pass ins teils britisch besetzte Österreich einzureisen. Er fragte dann bei allen Agenturen in Wien, ob sie einen Fotografen benötigen. Er konnte zwar noch nicht gut fotografieren, wie er uns erzählte, aber: "die anderen auch nicht". Er fand eine Stelle bei Associated Press, wo er auch seine spätere Frau Traudl kennenlernte - eine Christin, die später, bevor die Kinder kamen, zum Judentum übergetreten ist (musste eine Mikwe machen, sozusagen ein "Taufbad" im "Tauchbad").

Sein Höhepunkt als Fotograf – zumindest seine erfolgreichsten und bekanntesten Fotos – waren ja die Fotos vom Ungarn-Aufstand 1956. Dass er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war liege daran, dass er schon die ganze Zeit gespürt hat, das was passieren wird. Die Stimmung, die Spannung im Volk habe dies gezeigt. Und als die Sowjets sich nach dem Aufstand in Ungarn zurückzogen, habe er schon nicht glauben können, dass die sich das gefallen lassen. Er ist also mit dem Auto den Truppentransportern bis an die Grenze nachgefahren – und nach der Grenze waren auch schon große Lager und Panzer, die offenbar nur auf einen Einsatzbefehl warteten. Lessing kehrte also nach Budapest zurück und verkündete seine Einschätzung, die Russen würden wieder kommen. Aber niemand konnte oder wollte das glauben, bis es dann eben doch geschah. So kam es, dass Lessing offenbar der einzige Fotograf war, der Bilder von der Niederschlagung des Aufstands in Budapest liefern konnte. Noch bevor alles vorbei war, war er schon wieder in Wien, und die Fotos traten ihre Reise um die Welt an.

Lessing blieb dann jedenfalls in Österreich und ließ sich auch, obwohl eher areligiös, "brav" bei der IKG registrieren, weil "es sich gehört". Im Laufe der Jahre hat er sich auch angewohnt, "wenigstens zu den hohen Feiertagen" in die Synagoge zu gehen.



Jüdische Identität

Auch wenn sich Lessing eher als areligiös bezeichnet und, wie gerade erwähnt, sich erst später mit regelmäßigen Synagogenbesuchen anfreunden konnte, bezeichnet er sich als "überzeugter Jude". Denn: "überzeugter Jude sein hat nichts mit Religion zu tun" (Zitat Lessing).

Er erzählte auch eine Anekdote von seiner Tochter, Hannah Lessing, die als Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eine Rede im Parlament halten sollte. Sie arbeitete an der Rede und kam dann mit folgender Frage zu ihrem Vater: Bin ich eigentlich österreichische Jüdin oder jüdische Österreicherin? Eine klare Antwort konnte ihr Erich auch nicht geben: Eigentlich beides, kommt drauf an, mit wem du sprichst. Was die Religiösität in der Familie betrifft, meint Lessing, es sei eine "schizophrene Familie": Hälfte/Hälfte. Tochter Hannah lebt eher religiös und isst koscher, die andere Tochter wiederum nicht.

Zu Israel befragt ("Wie stehst du heute zu Israel?"), musste Lessing erst mal ca. 10 Sekunden schweigen – es fiel ihm kein Wort, kein Satz ein, den er sagen sollte. Nach mehreren Versuchen, ein Wort hervorzubringen, meinte er dann jedenfalls, er, bzw. "man", mischt sich nicht in die Angelegenheit anderer Länder ein – "auch wenn man eine gewisse Affinität dazu hat". Und was den Gaza-Krieg betrifft: Israel habe aus dem Libanon-Krieg dazu gelernt, so Lessing. Denn auf beiden Seiten gab es nur sehr wenig Verluste. Israel habe versucht, sowohl unter der palästinensischen Zivilbevölkerung als auch unter den eigenen Soldaten Verluste so gut wie möglich zu vermeiden.

Zu Kreisky-Wiesenthal

Auch Erich Lessing kannte Kreisky persönlich. Er hat ihn eher positiv in Erinnerung, Kreisky sei etwa ein sehr guter Witzeerzähler gewesen. Die Kreisky-Wiesenthal-Affäre war aber auch für ihn "keines der schöneren Ereignisse" war. Der Grund für die heftige Konfrontation zwischen beiden liegt für Lessing auch darin begründet, dass beides "schwierige Persönlichkeiten" waren, die sich einfach "nicht verstehen" wollten. Kreisky habe charakterlich eher die Einstellung des assimilierten bürgerlichen Wiener Judentums der 20er-Jahre weitergetragen, wie etwa ein Otto Bauer, Victor Adler u.a. Er habe sich entschieden, ein europäischer Jude zu sein – so Lessing über Kreisky.

Interessante Aussagen machte Lessing zum Verhältnis zwischen Kreisky und Israel. So gab Kreisky ja den Forderungen der Terroristen nach, die die Auflassung des Zwischenlagers Schönau (Gemeinde Marchegg) in Österreich forderten, wo russische Juden auf die Ausreise nach Israel warteten. Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir reiste daraufhin eigens nach Wien, um Kreisky davon abzuhalten, den Terroristen nachzugeben, und versuchte ihn zu diesem Zweck an "sein Judentum" zu erinnern. Kreisky ließ sich darauf jedoch nicht ein (sein Judentum sei in diesem Fall "bedeutungslos") und schloss das Lager trotzdem. Die Auswanderung russischer Juden aus der Sowjetunion nach Israel lief im übrigen auch weiterhin über Österreich.

Und was die Affäre Wiesenthal-Kreisky betrifft, so sei Kreiskys Aufregung über Wiesenthals Aufdeckungen und Anschuldigungen auch damit zu erklären, dass Kreisky Peter (Friedrich Peter, Vizekanzler, FPÖ) gebraucht habe, und zwar nicht nur, um Bundeskanzler zu werden. Kreisky soll auch ein Interesse gehabt haben, so Lessing, dass Peter und die FPÖ pro-israelisch gestimmt wird. Man wollte "den Liberalen" Peter dahingehend stärken und benutzen, um die FPÖ zu einer liberalen Partei zu machen. Auch Israel hat diese Interessen mitgetragen und unterstützt. So hat es etwa bei Lessing ein Essen mit dem israelischen Botschafter und Peter gegeben. Wiesenthals Anschuldigungen haben aber alle Bemühungen "konterkariert" und alles zunichte gemacht. "Hätte die Politik funktioniert, hätten wir heute kein Strache-Problem", so die äußerst interessanten Äußerungen Lessings über Kreisky, Wiesenthal, Peter und Israel.

Zu Waldheim und Antisemitismus heute

Das Verhältnis zwischen Lessing und Waldheim war "uninteressant – Waldheim war ein uninteressanter Mensch". Ob die "Kampagne" gegen Waldheim den Antisemitismus gefördert habe? "Wie man's tut is' falsch." "Totschweigen" wär auch keine bessere Lösung gewesen.

Zu den kommenden Wahlen: Die Entwicklung rund um Strache und die FPÖ sei schlimm, die kommenden Wahlen werden zeigen, "was los ist". Jedenfalls war Lessing "da Haider 10 mal lieber als der Strache; der war wenigstens Opportunist."

Und zum heutigen Antisemitismus, bzw. dem Antisemitismus generell: "Antisemitismus hat nichts mit Juden zu tun." (in Bezug darauf, dass es Antisemitismus auch in Regionen gibt, wo gar keine Juden leben oder je irgendeinen Einfluss ausgeübt hätten – Stichwort: "Antisemitismus ohne Juden"). In Vorarlberg, so Lessing, sei es 10 mal wahrscheinlicher von einem Auto überfahren zu werden, als einem Juden die Hand schütteln zu müssen.

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